S O W I E S O
Die lange Zeit der Kriege und Kämpfe ist vorbei! Und das Verlangen, immer wirkungsvollere Tötungsmechanismen in Gang zu setzen, konnte erfolgreich gestoppt werden. Die technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften der Menschheit dienen nun verstärkt der Erforschung lebensverbessernder menschlicher Fortpflanzung!
THEATER Projekt 96 hatte Premiere am 15. November 1996 im KUT, Mainz. Weitere Aufführungen fanden statt am 17. und 18. November 1996
Haschmich:
– Ich weiß sowieso, dass in der Todesminute das Sterben seine erschreckende Wirkung verliert. Die chemische Zusammensetzung eines Menschen lässt im Moment des Erstarrens gar keine Panik zu. – Ist doch ein geradezu beruhigender Gedanke. Oder nicht? – Ich weiß es! Ich bin mir da ganz sicher! – Ich kann also ruhig auf diesem Stuhl sitzen bleiben und sterben …
Dingsbums:
– … Darf ich mich zu dir setzen?
Die Rhein Main Presse schrieb:
Kinder wachsen in Bruttaschen auf
tf. – Dingsbums hat genug vom Kämpfen, deshalb stellt der Guerillero sein Gewehr zur Seite und startet einen Versuch, sich in der schönen neuen Welt zu integrieren. Diese neue Welt verheißt Ordnung und Frieden.
In Silvia Kiefers neuem Stück hat die Welt sich entscheidend verändert. Die gewaltbereite Gesellschaft wurde in einer Revolution überwunden, dabei wurde auch die Demokratie beseitigt. Ein paar letzte Verfechter des alten Systems, darunter Dingsbums, kämpfen noch gegen den neuen Staat. Der seinerseits strebt den leidenschaftslosen Menschen an, Kinder werden, um sie emotionalen Einflüssen zu entziehen, ab dem 33. Tag in Bruttaschen großgezogen. Sowieso ist ein so Geborener. Immer höflich, immer nett, immer freundlich, aber eben auch ohne Leidenschaft. Mit seiner Freundin Haschmich spielt er Heiraten oder Weihnachten, je nach Laune. Aber Haschmich, Tochter einer der sogenannten Gründungsmütter, reicht das nicht. Sie beschreitet den Weg von der sterilen Ordnung zum fruchtbaren Chaos. "Mir ging es vor allem um die Entwicklungsgeschichte Haschmichs", sagte Autorin Silvia Kiefer zur Intension des Stückes. Das zentrale Thema der äußeren Handlung ist aber der Konflikt von Freiheit und Zwang. "Natürlich sind Frieden und Harmonie zunächst erstrebenswerte Ziele", so Silvia Kiefer, "aber wenn sie mit Zwang durchgesetzt wird, bekommt selbst die Friedfertigkeit faschistoide Züge."
Muten die Namen auch dadaistisch an, so ist der Text doch konkret und fassbar, gelegentlich fast lyrisch. Die Szenen werfen Streiflichter auf die neue Ordnung und die schöne neue Welt, die so wenig Erstrebenswertes hat.
Es spielten:
Haschmich / Heike Netscher
Dingsbums / Andreas Wahl
Sowieso / Jürgen List
Auweh / Carmen Stall
Weißauch / Heike Berg
Weißschon / Dorothea Axmann
Weißnicht / Patricia Johannbroer
Und / Alexandre Chevalier
Text und Leitung / Silvia Kiefer
Musikalische Begleitung (Flöte und Percussion) / Constanze Schuler
Maske und Kostüm / Heike Netscher
Plakat und Flyer
Idee / Heike Netscher
Texte / Jürgen List
Tanja Zech schrieb in der Main-Spitze Rüsselsheim:
Die Frauen haben die Macht erobert
Die Welt in 100 Jahren: Frauen haben sich die Macht erobert, Kriege sind abgeschafft, die Demokratie ist einem Technologieregime gewichen, menschliche Emotionen sind genau so "out" wie die natürliche Fortpflanzung. Der herkömmliche "Placentamensch" ist ein Auslaufmodell, die Zukunft gehört dem "Beutelmenschen". Grundlage dieser Gesellschaft ist die "Brutpflegetasche", die eine kontrollierte, automatisierte Aufzucht charakterlich programmierbaren Nachwuchses ermöglicht.
Bei diesem utopischen Gesellschaftsentwurf im aktuellen Theaterstück der Nauheimer Autorin Silvia Kiefer "Sowieso" stand offenbar Aldous Huxleys "Brave New World" Pate. Was Silvia Kiefer daraus gemacht hat, kann jedoch nicht rundum überzeugen. Trotz interessanter Details vermochte sie keine wirklich neuen Aspekte hinzuzufügen. Kernaussage ist, dass Frauen auch nicht "die besseren Herren" sind, aber wer hat das auch jemals behauptet?
Das weibliche Geschlecht hat sich eine Diktatur des Friedens erkämpft, regiert aber nicht etwa mit neuen Strukturen, sondern bedient sich der alten, patriarchalischen Machtmechanismen. Die Revolution richtete sich in erster Linie gegen die eigene Geschlechtsspezifika: Die Frauen haben nicht nur ihnen zugeordnete Charaktereigenschaften wie Emotionalität, Einfühlungsvermögen abgelegt, sondern verweigern sich auch ihrer biologischen (Mutter-)Rolle.
Basierend auf der These, Aggressionen natürlich geborener Kinder seien auf pränatalen Stress zurückzuführen, wird ein vollautomatischer Brutpflegemechanismus zur Aufzucht friedlicher Wesen entwickelt. Schwachpunkte dieses Systems sind technische Produktionspannen und die durch Entfremdung bedingte Unfähigkeit eines sozialen Miteinanders.
In dieses nüchterne Anti-Matriachat, angeführt von einer kühlen Wissenschaftlerin, platz ein Soldat, "Dingsbums", einer der letzten Verfechter der "Placentagesellschaft". Der Soldat ist hier die menschlichste Figur, bereit, das Recht auf Liebe und Elternschaft mit der Waffe zu verteidigen. Er findet in dem Mädchen "Haschmich" eine Gleichgesinnte. Doch ihre Hoffnung auf individuelles Familienleben gegen die Regeln des Systems ist mit einem großen Fragezeichen versehen.
Der Soldat (Andreas Wahl) und das Mädchen (Heike Netscher) waren auch schauspielerisch am interessantesten, während sich alle anderen Charaktere steif durch die Szenen bewegten, zumal ihre Rollen und Dialoge wenig darstellerische Spielräume, nicht einmal persönliche Namen, vorsehen. Wie die bisherigen Stücke Silvia Kiefers kommt auch dieses mit ein paar Stühlen und einem Tisch als Kulisse aus.
Mein damals achtjähriger Sohn André schrieb mir am Tag der Generalprobe einen Brief:
Hallo Mama! Hoffentlich ist die Woche bald vorbei. Weil ich vermisse dich so. Ach Mama, ich habe der Oma ganz viel geholfen. Und Mama, wenn ich jetzt wieder nur 1er und 2er schreibe, schaffe ich das Schuljahr bestimmt. Und Mama, ich habe dich lieb. Und 100000000000000000000 Küsse.